Musik, die Mathematik der Gefühle |
Die Musik-Formel:
Lieder können zu Tränen rühren und Massen in Ekstase
treiben. Wie ist das möglich? Forscher entschlüsseln, wie sich
physikalische Schwingungen in Gefühle verwandeln - und wie die rätselhafteste
aller Künste einst entstanden ist. Machte erst die Musik den Menschen zum
sozialen Wesen?
Johann Sebastian Bach wird überdauern. Selbst wenn
ewiges Eis die Erde unter sich begraben sollte oder die Sonne ihren Planeten
verbrennt - dem C-Dur-Präludium aus dem zweiten Teil des "Wohltemperierten
Klaviers" des Meisters wird all das nichts anhaben. Das Musikstück
wird auch nach dem Ende des Planeten Erde noch an Bord der "Voyager"-
Raumsonden auf der Reise zu fernen Welten sein. Gepresst auf eine vergoldete
Kupfer- Schallplatte, entfernt es sich derzeit minütlich um gut tausend
Kilometer von der Erde. Außer der Bach-Komposition finden sich 26
weitere Musikstücke sowie Grußworte in 55 Sprachen auf dem Tonträger,
der im All Jahrmilliarden überdauern soll. Sogar einen Alu- Plattenspieler
samt Gebrauchsanweisung hat die Raumsonde im Gepäck - vorgesehene
Laufgeschwindigkeit: 16 2/3 Umdrehungen pro Minute. Die musikalische Botschaft
soll fernen Zivilisationen vom menschlichen Genius künden. Musik, so
scheint die Übereinkunft, gehört zur Essenz intelligenten Lebens, zu
jenen Dingen, die das Menschsein erst ausmachen. Was aber sollte ein außerirdischer
Empfänger eigentlich mit der akustischen Botschaft anfangen? Die
Abbildungen vom Planeten Erde und dem Menschen - auch sie an Bord der
Voyager-Sonden - erlauben ihm, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die
Absender der geheimnisvollen Botschaft aussehen und woher sie stammen. Auch
Worten und mathematischen Formeln lässt sich ein Sinn entlocken, wenn erst
einmal der dazu notwendige Code geknackt ist. Aber einem Präludium? Muss
es nicht jedem Nicht- Menschen nur als Krach erscheinen? Musik ist die wohl
merkwürdigste Kunstgattung, die der Mensch je hervorgebracht hat. Anders
als Malerei, Poesie oder Bildhauerei stellt sie die Welt nicht dar. Ein Akkord
bedeutet nichts, eine Melodie hat keinen Sinn. In ihrem Kern ist Musik reine
Mathematik - berechenbare Luftschwingungen, deren Frequenzen sich nach
physikalischen Regeln überlagern. Und doch geschieht eine Art Wunder:
Mathematik verwandelt sich in Gefühl. Musik kann zutiefst berühren.
Kaum ein Mensch ist immun gegen ihre Magie. So sinnentleert die
Aneinanderreihung von Tönen scheint, keine Kultur mag darauf verzichten. Ob
die Gamelan-Musik Indonesiens, die doppeltönigen Kehlgesänge der
Nomaden im sibirischen Tuva oder der wundermächtige Sopran einer Maria
Callas: Musik bewegt, provoziert, entzückt.
Doch wie ist das möglich? Warum fährt ein forscher Rhythmus dem Mensch in alle Glieder? Wieso weckt der eine Akkord Wehmut und Sehnsucht, der andere hingegen Triumphgefühle? Wozu dient das ganze Flöten, Trommeln und Tirilieren? Und schließlich: Was genau ist Musik eigentlich? Weshalb besteht der überraschende Zusammenhang zwischen Zahlen und Klängen? Und wann und warum hat der Mensch damit begonnen zu musizieren? Mit den Methoden der modernen Wissenschaften gehen Psychologen, Hirnforscher, Mathematiker und Musikwissenschaftler dem Phänomen nun auf den Grund. Musik, so zeigt sich dabei, ist weit mehr als zweckfreier Müßiggang. Immer deutlicher offenbaren die Befunde, wie eng sie mit dem Wesen des Menschen und seiner Lebenswelt verbunden ist:
Seit je rätseln die Denker über die herausragende und intensive
Wirkung der Tonkunst. Der Philosoph Immanuel Kant sah sie als Natursprache der
Empfindungen. Friedrich Schiller stellte den Musiker als "Seelenmaler"
dem Dichter zur Seite. Die ersten Versuche, das Phänomen wissenschaftlich
zu erfassen, unternahmen bereits die Griechen. Seiner Zeit weit voraus,
beschrieb der Philosoph Pythagoras um 500 vor Christus als Erster den verblüffenden
Zusammenhang zwischen Mathematik und Musik. Mit Hilfe eines so genannten
Monochords - einer Art Gitarre mit nur einer einzigen Saite - untersuchte der
Denker die Geheimnisse der Tonkunst. Er erkannte, dass sich die grundlegenden
Musikintervalle durch einfache Zahlenverhältnisse beschreiben lassen. Mit
einem verschiebbaren Steg teilte Pythagoras die Saite des Monochords
beispielsweise im Verhältnis eins zu zwei. Die beiden Saitenabschnitte
erklangen fortan im Abstand von genau einer Oktave, dem Grundintervall jeder
Musik. Der sein Leben lang nach mathematischer Perfektion forschende Grieche
war über die Entdeckungen wohl entzückt: Zu gut passte sie in sein
mechanistisches Weltbild, dem zufolge das Buch der Natur in der Sprache der
Mathematik geschrieben sei. Noch weitere grundlegende musikalische Intervalle
konnte Pythagoras mit Hilfe des Monochords erzeugen. So entwickelte er schließlich
die erste Tonleiter der Weltgeschichte, die bis heute mit leichten Veränderungen
in der westlichen Welt Bestand hat.
Erst im 17. Jahrhundert jedoch -
längst waren Notensystem, Mehrstimmigkeit und Harmonik erfunden - gelang
es dem französischen Mönch und Mathematiker Marin Mersenne, den
Zahlenspielen des Griechen eine physikalische Erklärung zu geben. Mersenne
brachte bis zu 40 Meter lange Saiten zum Klingen und zählte ihre
Schwingungen. Das Ergebnis: Tatsächlich schwingt eine Oktave stets exakt
doppelt so schnell wie der jeweilige Grundton. Denn nichts anderes als
Schwingungen sind die Töne - ein ewiges Hin- und Hertanzen kleinster
Luftmoleküle, deren Bewegung erst die Qualität dessen bestimmt, was an
die Ohren der Welt dringt. Wasser rauscht, Steine klackern, Blätter
rascheln und Sand knirscht - doch all diese Geräusche sind noch keine
Musik. Wie wütend gemachte Bienen sausen die Luftteilchen bei derlei Getöse
chaotisch durcheinander. Erst wenn die Luftmoleküle gleichsam in Reih und
Glied schwingen, erklingt schließlich ein einzelner Ton: Natürliche
und durch Instrumente erzeugte Töne bestehen dabei meist aus Schwingungen
mehrerer Frequenzen, die sich überlagern. "Musik versucht die
Trennung zwischen Dasein und Jenseits aufzuheben." "Tatsächlich
addiert jedes Luftmolekül in einem Konzertsaal die Schwingungen aller
Instrumente zu einem einzigen wilden Tanz", beschreibt der amerikanische
Musikwissenschaftler Robert Jourdain den unwirklich komplexen Vorgang. Diesen
Tanz zu erfassen und daraus jede einzelne der ursprünglichen Schwingungen
herauszufiltern ist die ungeheure Leistung des menschlichen Gehörsinns. Am
Anfang steht ein vergleichsweise ärmlich ausgestattetes Organ: das Ohr.
Mit nur etwa 5000 so genannten Haarsinneszellen (zum Vergleich: im Auge sorgen
120 Millionen Fotorezeptorzellen für den richtigen Durchblick) verwandelt
es die Schallwellen in elektrische Impulse. Über das Trommelfell werden
die winzigen Luftdruckschwankungen registriert, über die Gehörknöchelchen
verstärkt und auf eine Membran am Anfang des flüssigkeitsgefüllten
Innenohrs übertragen.
Buchtip Robert Jourdain: "Das wohltemperierte Gehirn".
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg; 440 Seiten; 14,95 Euro.
Das schneckenförmige Sinnesorgan vollbringt dann die erstaunliche Leistung,
den eintreffenden Schall in seine einzelnen Frequenzen aufzuspalten. Tiefe Töne
wandern tief in die Hörschnecke hinein und werden dort in Nervenimpulse
umgewandelt; hohe Töne dagegen schon am Eingang des Innenohrs. Mit diesem
Filter-Mechanismus gelingt es dem Ohr, selbst Töne voneinander zu
unterscheiden, die nur ein Zehntel eines Halbtonschrittes auseinander liegen.
Von nun an besteht das Gehörte nur noch aus Nervenimpulsen, die durchs Hirn
rasen - und ist gleichzeitig natürlich viel mehr als das: "Das Ohr überschreitet",
schrieb schon Joachim-Ernst Berendt in seinem Buch "Das dritte Ohr - vom Hören
der Welt": "Dort geht Materielles in Fühlbares, in Hörbares,
in Messbares, in Nurnoch-gerade-Erahnbares, in Jenseitiges und Spirituelles und
Unendliches über." Genau diese "Transzendierung" (Berendt)
reiner Physik in schier unfassbar komplexe Wahrnehmung ist es, die für
viele das Faszinosum der Musik ausmacht. "Für mich ist Musik in ihren
besten Momenten der Versuch, die Trennung zwischen Menschendasein und Jenseits
aufzulösen durch eine Verbindung mit Gott", formuliert etwa der
Komponist Karlheinz Stockhausen. Der Geiger Yehudi Menuhin wiederum hält
Gesang gar für "die eigentliche Muttersprache des Menschen".
Doch wie ist das zu erklären?
Erst in jüngster Zeit haben sich Forscher aufgemacht, über die
reine Physik der Musik hinaus die Wurzeln der menschlichen Musikalität zu
ergründen. Zu allgegenwärtig erscheinen ihnen Rhythmen und Melodien,
zu groß deren emotionale Kraft, als dass sie bloßes Beiwerk des
Menschseins sein könnten. "Wenn man etwas hat, das in jeder bekannten
Kultur und zu jeder Zeit vorkam, muss man sich fragen, warum das so ist",
sagt etwa Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie und
Musikermedizin in Hannover. Und auch Thomas Geissmann vom Anthropologischen
Institut der Universität Zürich ist überzeugt: "Da Musik
auf fast alle Menschen einen überwältigenden, zuweilen hypnotischen
Effekt ausübt, müssen wir annehmen, dass es sich hierbei um ein ursprüngliches
Merkmal mit starker erblicher Komponente handelt." An zwei Enden nehmen
die Experten die Indizienkette auf. Zum einen gehen sie dem Phänomen dort
auf den Grund, wo es entsteht: im Gehirn. Vor allem richten sie ihr Interesse
auf die noch kaum erforschte Verbindung zwischen Musik und Emotion. Zum anderen
blicken sie weiter zurück in der Evolution der Musik als je zuvor. Denn
einem fernen Nachhall dessen, was die Ur- und Vormenschen der afrikanischen
Steppe einst im Familienrund zu Gehör brachten, lässt sich noch heute
lauschen - bei den singenden Affen in den feuchten Wäldern Sumatras,
Borneos und Vietnams.
Gleich viermal unabhängig voneinander -
bei den Indris in Madagaskar, den Sulawesi- Koboldmakis in Indonesien, den
Springaffen in Mittel- und Südamerikas und den Gibbons in Südostasien
- ist bei den Affen Gesang entstanden. Besonders Gibbons verblüffen durch
erstaunliche musikalische Darbietungen
zu hören unter unter
www.gibbons.de. "Traurig sind die Gesänge der Gibbons in den drei
Schluchten von Patung - nach drei Rufen in der Nacht netzen Tränen das
Kleid des Reisenden", heißt es schon in einem chinesischen Lied aus
dem 4. Jahrhundert. Zwischen 10 und 30 Minuten können die in Strophen
unterteilten Gesänge der Affen andauern, berichtet der Zürcher
Zoologe Geissmann, der die Tiere vor Ort mit Mikrofon und Aufnahmegerät
belauscht hat. Bei einigen Gibbon-Arten, etwa den indonesischen Siamang, singen
Männchen und Weibchen sogar im Duett. "Vom Menschen abgesehen gibt es
kein anderes Landwirbeltier, das auf ähnlich komplizierte Weise singt",
sagt Geissmann. Zudem lebten alle Affenarten, die bislang beim Singen erwischt
wurden, monogam, also wie der Mensch in Einehe. Der Forscher ist sich sicher:
Paarbindung, aber auch Revierverteidigung und Gruppenzusammenhalt sind die Gründe
für das Affenkonzert. Als Vorläufer äffischer Tonlust hat
Geissmann so genannte loud calls ausgemacht: laute Rufe, wie sie etwa
Schimpansen ausstoßen. Gleich mehrmals habe sich bei Primaten aus den loud
calls Gesang entwickelt: "Es sollte mich doch sehr wundern, wenn sich die
Musik des Menschen nicht auch aus solchen Rufen herleitet." Tatsächlich
fällt es Wissenschaftlern nicht schwer, auch beim Menschen Indizien für
implizite Musikalität aufzuspüren.
Besonders Kleinkinder
sind dabei begehrte Versuchsobjekte, weil ihre Reaktion auf Klänge nur
wenig von kulturellen Einflüssen überformt ist. Im Labor der
kanadischen Psychologin Sandra Trehub beispielsweise ist alles auf die kleinen
Probanden eingestellt. Teletubbies und Spielzeugautos liegen herum. An der Decke
hängen Mobiles. An den Wänden kleben bunte Poster. Trehub sucht im
Gehirn von Kindern nach den neuronalen Wurzeln der Musik. Das Prinzip der
Versuche ist denkbar einfach: Über einen Lautsprecher spielt die Forscherin
Babys Melodien vor, die auf einer bestimmten Tonart basieren. In unregelmäßigen
Abständen jedoch sind einzelne schiefe Töne in die Melodie
eingeflochten. Das Verblüffende: Die Kleinen merken die Dissonanz. Jedes
Mal, wenn ein unpassender Ton kommt, halten sie inne und drehen ihren Kopf zum
Lautsprecher. Schon sechsmonatige Kinder reagieren auf diese Weise auf Musik,
hat Trehub herausgefunden. Andere Forscher verlegen den Beginn der Musikalität
sogar noch weiter nach vorn. Ab dem zweiten Lebensmonat nehmen Babys demnach
bereits Rhythmuswechsel wahr. Ja, selbst Ungeborene sind schon empfänglich
für musikalische Reize.
Bis ins Erwachsenenalter reagiert der Mensch höchst empfindlich auf
Musik - auch dann, wenn er dies selbst gar nicht merkt. Das wies der Leipziger
Psychologe Stefan Kölsch nach, als er Versuchspersonen, die sich selbst
als unmusikalisch bezeichneten, Akkordfolgen vorspielte. Wie bei Trehubs
Experimenten hatte Kölsch unpassende Akkorde in seine Klangfolgen
gemogelt. Profi-Musiker sind darauf geschult, solche Misstöne zu erkennen.
Die Laien in Kölschs Experiment jedoch bestritten vor Beginn des Versuchs,
derlei Nuancen wahrnehmen zu können. Ganz anders war Kölschs Befund:
Er belauschte die Gehirnströme seiner Probanden mit Hilfe einer Art
verkabelter Badekappe. Das entstehende Elektroenzephalogramm (EEG) gibt
Aufschluss darüber, welche Hirnregionen jeweils aktiv sind. Binnen wenigen
Millisekunden, so konnte Kölsch auf diese Weise nachweisen, reagierte das
Hirn seiner Versuchspersonen auf die schrägen Töne. Das Fazit des
Forschers: "Auch so genannte Nichtmusiker sind hoch sensibel für
kleinste musikalische Variationen."
Schon in der Steinzeit
scharten sich Menschen zur Musik ums Lagerfeuer. Kölschs und Trehubs
Experimente zeigen, dass Menschen Musik offenbar schon sehr früh und sehr
universell verstehen. Die Frage indes, ob dieses Verständnis genetisch
bedingt oder kulturell geprägt ist, beantworten sie nicht. Genau das aber
ist der zentrale Punkt, wenn es um die evolutionäre Bedeutung der Musik
geht: Ist sie letztlich nur ein Kulturprodukt? Oder hat die Natur dem Homo
sapiens die Harmonielehre gleichsam ins Erbgut diktiert? Experimentell ist die
Frage kaum zu beantworten, denn dazu wären Probanden nötig, die
bisher fern aller Musik gelebt haben. Und die gibt es praktisch nicht. Denn nie
war so viel Musik wie heute. Im Auto, in der Küche, am Arbeitsplatz: Überall
dudelt das Radio. Kein Supermarkt, keine Bahnhofshalle und kein Wartesaal kommt
ohne Beschallung aus. Derart dauerberieselt könnten selbst Ungeborene
unbewusst die Gesetze der Harmonie erlernen, argumentieren manche Forscher.
Sicher allerdings ist, dass zunehmend die Grenzen der Musikkulturen
verschwimmen. Längst ist der Pop zum transkulturellen Experimentierfeld
geworden. Der Stand der Globalisierung ist nirgends besser zu erkennen als am
Grad der Vermengung von Stilen. Da dröhnt Robbie Williams noch im
entlegensten Dorf Papua-Neuguineas aus dem Radio. Gleichzeitig werden in London
Dancefloor-Rhythmen mit Sitars unterlegt. Heißt das, dass Musik von allen
Menschen ähnlich verstanden wird? "Oberflächlich betrachtet könnte
man diesen Eindruck gewinnen", sagt die Berliner Musikwissenschaftlerin
Susanne Binas vom Forschungszentrum Populäre Musik. Wer jedoch genauer
nachforsche, stelle rasch fest, dass derselbe Hit keinesfalls überall
gleich wahrgenommen werde: "Musik funktioniert wie Seifenopern - je nach
lokalem Hintergrund wird sie umgedeutet und kann deshalb sehr verschieden gehört
werden." Tatsächlich ist Musik so vielfältig und alt, dass es
schwierig erscheint, aus der Vielzahl der Stile und Traditionen eine Art
Quintessenz zu ziehen.
Schon die Ägypter bliesen mit dicken
Backen Trompete und Doppelrohrblattpfeife; die Sumerer zupften vor mehr als
5000 Jahren Harfe und Leier. Selbst in der Steinzeit scharten sich die Menschen
schon zur Musik ums Lagerfeuer. So fanden Tübinger Forscher 1973 im Geißenklösterle,
einer Höhle nahe Blaubeuren, eine Flöte aus Schwanenknochen. Das
Instrument weist drei Grifflöcher auf, sein Alter wird auf 35 000 Jahre
geschätzt. Rhythmische Strukturen werden in verschiedenen Erdteilen
unterschiedlich interpretiert. Auch Tonleitern sind im Laufe der
Menschheitsgeschichte gleich mehrfach entwickelt worden. So kennt etwa die
indonesische Musik nur zwischen fünf und sieben Stufen in der Oktave. Die
indische Musiktheorie teilt sie in 22 gleiche Intervalle ein, während das
hiesige System mit 12 Halbtönen auskommt. Und nicht einmal die Wirkung
von Dur und Moll ist universell. Die Griechen etwa unterschieden in ihrer
ausgefeilten Musiktheorie noch sieben verschiedene Tonleitern, denen sie
bestimmte Wirkungen auf den Menschen zuordneten. Erst ab dem 16. Jahrhundert
verarmte die Vielfalt zum heute in der westlichen Welt gängigen
Dur-Moll-System. Verdankt die Musik ihre Wirkung also doch nur einer
kulturellen Konvention? Keineswegs: Zwar sind all ihre Spielarten Ergebnis
lokaler Tradition, aber ihr innerster Gehalt ist doch verfasst in einer
universellen Sprache.
Den Rahmen stecken dabei die Physiologie und die
Physik des Schalls. So unterschiedlich die Tonsysteme der Welt auch sein mögen
- jedes von ihnen kennt zum Beispiel Grundtöne, die dem Hörer
Orientierung verschaffen, und jede Melodie kehrt immer wieder zu dem gewählten
Grundton zurück. Stets gründen Tonsysteme zudem darauf, dass Töne
im Abstand einer Oktave (also exakt doppelter Frequenz) als wesensverwandt
empfunden werden. "Die Oktavgleichheit ist das einzige universell gültige
harmonische Prinzip", sagt der Musikforscher Jourdain: "Sänger
glauben sogar manchmal, den gleichen Ton zu singen, obwohl sie in Wirklichkeit
eine Oktave auseinander sind." Gerade wenn Männer und Frauen eine
Melodie zusammen singen - die Männer eine Oktave tiefer als die Frauen -,
ist dieses Phänomen offensichtlich und wird doch gleichzeitig als
vollkommen natürlich wahrgenommen.
Und das ist kein Zufall. Denn tatsächlich kommt die Oktave schon in der
Natur vor. Sie und mit ihr viele andere Elemente von Melodie und Harmonie haben
ihre Wurzeln in den von schwingenden Gegenständen hervorgerufenen Klängen.
Ob Baumstamm, Stein oder Trommel - immer besteht der Klang keinesfalls nur aus
einem Ton, sondern aus vielen verschiedenen, die erst zusammen die Klangfarbe
ausmachen. Über dem vor allem wahrgenommenen Ton erklingen im Hintergrund
so genannte Obertöne. Sie sind sehr leise, werden im Gehirn jedoch mit
verarbeitet und bestimmen den Gesamteindruck von Musik wesentlich mit. Das
Frappierende: Zu diesen in der Natur allgegenwärtigen Obertönen zählen
eben genau die Oktaven - aber beispielsweise auch der Dur-Dreiklang, der gerade
im westlichen Tonsystem eine herausragende Bedeutung hat. Die natürlichen
Obertöne sind es auch, die Musik schön, aber auch scheußlich
klingen lassen.
Ob sich bei einem Konzert vor Grauen die Nackenhaare
sträuben oder ob wohlige Schauer den Rücken hinunterlaufen, hängt
maßgeblich davon ab, welche Obertöne der Klang enthält. Liegen
viele von ihnen zu nah beieinander - so der Fall etwa beim Zusammenklang von
zwei Tönen, die nur einen Halbton voneinander abweichen - schlägt das
Ohr Alarm, die Harmonie geht flöten. Sinnesforscher haben inzwischen die
Erklärung dafür gefunden: Weil im Innenohr nah beieinander liegende
Frequenzen auch nah nebeneinander liegende Nervenzellen aktivieren, geht
gleichsam die Trennschärfe zwischen den Tönen verloren. Die
Nervenimpulse überlagern sich gegenseitig. Das Gehirn interpretiert dieses
Durcheinander als ein unerträgliches Wimmern. "In der Musik ist
unglaublich viel durch schwingende Körper und die Physiologie des Gehörs
bereits festgelegt", fasst der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die
Erkenntnisse zusammen. Das Ohr habe sich den "Klängen, die es aus der
Natur kennt, angepasst". Auch die - letztlich willkürliche -
Einteilung der Oktave in zwölf jeweils gleich weit voneinander entfernte
Halbtöne in der abendländischen Musik sei schlüssig, weil sie den
natürlichen Klangerfahrungen so gut wie irgend möglich gerecht werde.
Buchtip Manfred Spitzer: "Musik im Kopf". Schattauer Verlag, Stuttgart; 468 Seiten; 29,95 Euro
So wird deutlich, dass sich Musik trotz ihrer Vielfältigkeit in ihren
Grundzügen kulturübergreifend stark ähnelt und immer denselben
Naturgesetzen folgt. Die universelle Gültigkeit musikalischer Regeln ist
damit jedoch noch lange nicht am Ende. Denn was die Forscher vor allem von der
Ursprünglichkeit der Musik überzeugt, ist ihre emotionale Kraft. Wo
immer Musik auch gespielt wurde und wird: Immer schon war sie das, was Leo
Tolstoi als "Kurzschrift des Gefühls" bezeichnete. "Nachdem
ich Chopin gespielt habe, fühle ich mich, als hätte ich über Sünden
geweint, die ich nie begangen habe, und über Tragödien getrauert, die
nicht die meinen sind", bekannte Oscar Wilde.
Thomas Mann
wiederum verzückte eine einzige Note am Ende von Beethovens Klaviersonate
Nummer 32 in c-Moll Opus 111. Eine kleine Variation des Motivs nur, "vor
dem d ein cis", bringt in seinem Roman "Doktor Faustus" den
Organisten Wendell Kretzschmar ins Schwärmen: Die "rührendste, tröstlichste,
wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt" sei dieses cis, "wie
ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar". Mit "überwältigender
Vermenschlichung" lege dieser eine Ton das Stück dem Hörer zum "ewigen
Abschied so sanft ans Herz, dass ihm die Augen übergehen". Es
scheint vermessen, sich solchen zutiefst persönlichen Erfahrungen mit den
Mitteln nüchterner Wissenschaft zu nähern. Und doch hat der britische
Psychologe John Sloboda genau das versucht. Er hat seine Probanden nach ihren
Gefühlen beim Hören von Musik befragt. 80 Prozent gaben an, dass
bestimmte Stücke bei ihnen körperliche Reaktionen auslösen.
Lachen und Weinen wurden ebenso genannt wie Gänsehaut, Herzklopfen oder
Kloßgefühl in der Kehle.
Die Erfahrungen der verschiedenen
Hörer stimmten dabei verblüffend gut überein. Bachs h-
Moll-Messe, so fand Sloboda beispielsweise heraus, rührt stets beim "Dona
nobis pacem" in Takt 40 bis 42 zu Tränen. Der Anfang von Elfmans "Batman
Theme" jagt Schauer über den Rücken. Bei Beethovens
Klavierkonzert Nummer 4 in G-Dur drückt in Takt 191 des dritten Satzes der
Magen. Zu den Auslösern der unvermittelten Gefühlswallungen gehören
plötzliche Lautstärkewechsel, unerwartete Harmonien oder Melodien,
die gleichsam von Ferne durch den Teppich der Begleitung dringen. Auch eine
einsetzende Singstimme, eine Verzögerung der Schlusskadenz oder
synkopische Rhythmen können im Organismus Gefühle wecken.
"Gänsehaut-Faktoren"
nennt Eckart Altenmüller derlei musikalische Elemente, die Komponisten zu
allen Zeiten zu nutzen wussten. Rachmaninows zweites Klavierkonzert dient als
Trostpflaster bei Liebeskummer. Mozarts g- Moll-Sinfonie löst
freudig-banges Herzzittern aus. Bei Bach wiederum ist es die für die
meisten Hörer gleichsam immanente Erhabenheit der Musik, die fasziniert -
ein Umstand, der oftmals als Resultat einer Art genialer mathematischer Ordnung
im Werk des Meisters interpretiert wird. Doch eine solche versteckte
Zahlensymbolik zu finden, haben sich ganze Generationen von Musiktheoretikern
weitgehend erfolglos bemüht. Zwar setzt etwa im Choralvorspiel "Dies
sind die heiligen zehn Gebot" das Fugenthema zehnmal ein, im "Herr,
bin ich's" der Matthäus-Passion erklingt das Wort "Herr"
elfmal - entsprechend der Anzahl der Jünger.
Doch darüber hinaus ist Bachs angebliche Zahlensymbolik keinesfalls bewiesen und verkommt oftmals zum reinen Abzählspiel. Ob beispielsweise die Menge der Basso-continuo- Töne eines Arioso in der Matthäus-Passion auf einen alttestamentlichen Psalm verweisen soll, dessen Worte die entsprechende Evangelistenpassage kommentieren, erscheint vielen Musikwissenschaftlern heute als fragwürdig. Weiter zu Teil 3 Dennoch spielt die Mathematik in der Musik schon deshalb eine wesentliche Rolle, weil sie sich zwangsläufig im Rhythmus wiederfindet, der jedes Lied vorwärts treibt. Im Marsch wird das starre Korsett des Viervierteltakts besonders deutlich. Mit der Präzision eines Uhrwerks drehen sich die Derwische im Tanz. Der Walzer ist deshalb so schwungvoll, weil ihn sein Dreiertakt mit Macht vorwärts treibt. Besonders ergreifend wird Musik jedoch gerade dann, wenn sie mathematisch unscharf wird und sich gleichsam gegen einen allzu starren Rhythmus auflehnt. Ein faszinierendes Beispiel hierfür liefert der Swing: Swing ist das Herz des Jazz. Er erst erweckt Jazzmusik zum Leben und macht den Unterschied zwischen solcher Musik, die einen kalt lässt, und solcher, bei der jeder Fuß mitschwingen muss. Doch wann swingt Musik? Die Grundstruktur des Swing-Rhythmus besteht darin, die Achtelnoten der Musik abwechselnd lang und kurz zu spielen. In Schlagzeugschulen taucht deshalb vielfach die Anweisung auf, die erste von jeweils zwei Noten doppelt so lang zu spielen wie die zweite. Doch diese exakte Regel funktioniert in Wahrheit nicht. "Wenn man das wörtlich nimmt, lernt man nie zu swingen", sagt der schwedische Physiker Anders Friberg.
Friberg hat das Spiel berühmter Jazz-Schlagzeuger wie Tony Williams,
der mit Miles Davis zusammenspielte, oder Jack DeJohnette, Mitglied des
Keith-Jarrett-Trios, analysiert. Das Ergebnis: Je nach Tempo spielen die Profis
den Swing vollkommen unterschiedlich. Ist er langsam, verlängert sich
beispielsweise auch die erste der jeweils zwei Achtelnoten unverhältnismäßig
stark. Neben den Schlagzeugern verletzen auch die Jazz-Solisten systematisch
den Grundrhythmus.
Gute Musiker verkürzten die eine Note, verzögerten
die andere und akzentuierten die dritte, berichtet Friberg. Beim Jazz ist
dieses Phänomen extrem - und erst dadurch entfaltet diese Musikrichtung
ihre emotionale Wirkung. Friberg hat seine Erkenntnisse inzwischen in
komplizierte mathematische Algorithmen übersetzt. Sogar nervig-piepsigen
Handy-Klingeltönen kann der Physiker damit erstaunliches Leben einhauchen
- sie wirken viel lebendiger, nicht mehr so automatenhaft. Viele Komponisten
verstanden und verstehen es zudem meisterhaft, mit der Spannung zwischen
Wohlklang und Dissonanz zu spielen und damit die Gefühle der Zuhörer
zu beeinflussen. Dem Franzosen Claude Debussy etwa kam dabei der Zufall zu
Hilfe. Auf der Weltausstellung in Paris von 1889 lernte der Musiker den Klang
javanischer Musikinstrumente kennen. Die gewöhnungsbedürftige
Harmonik eines auf der Ausstellung gezeigten Gamelan - bestehend aus metallenen
Gongs und Xylofonen - faszinierte den Künstler so sehr, dass er fortan mit
der sechsstufigen Ganztonleiter experimentierte.
Damit schuf Debussy
Harmonien, die sich radikal von denen Bachs, Beethovens oder Brahms'
unterschieden. Auf die Spitze trieb den Verzicht auf jegliche Harmonik schließlich
in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der österreichische
Komponist Arnold Schönberg mit seinem Zwölftonsystem. Sein Ziel war
unter anderem der völlige Verzicht auf den Grundton. Kein Ton der
Tonleiter sollte in der Zwölftonmusik öfter vorkommen als ein anderer.
Oktaven waren bei ihm verpönt. Klänge mit besonderem Charakter
vermied er wo immer möglich. Schönberg wollte die traditionelle
Harmonik ersetzen, um die Musik weiterzuentwickeln - und löste doch nur
unverständiges Stirnrunzeln aus. "Sie bedienen sich der gleichen
Tricks wie die schauerlich-schöne Achterbahn auf Jahrmärkten und
Vergnügungsparks, in denen die vergnügungssüchtigen Besucher so
durchgeschüttelt werden, dass sich sogar bei einem unbeteiligten Zuschauer
das Innerste brezelartig verdreht", spottete etwa der deutsche Komponist
Paul Hindemith über die Zwölftöner. Hindemith glaubte nicht
daran, dass das Publikum sein kulturell tief verwurzeltes System musikalischer
Erwartungen ohne weiteres abwerfen könne.
Und tatsächlich scheint die Biologie gegen die Zwölftonmusik zu
sprechen - zumindest dagegen, dass sie tatsächlich gefallen könnte.
Zwar lauscht das Konzertpublikum ergeben der Musik Schönbergs und seiner
Nachfolger. Genießen kann es die Töne jedoch kaum. "Obwohl
allerhand interessante Dinge in dieser Musik zu finden sind, klingt sie für
die meisten Menschen einfach nicht harmonisch, sie tut direkt weh", sagt
der Musikforscher Jourdain.
Musik kann buchstäblich Schmerzen verursachen. Auf der
anderen Seite treibt sie zur Ekstase - und zwar tatsächlich abhängig
davon, welche harmonischen oder musikalischen Tricks, welches Handwerkszeug der
Komponist benutzt. Heute ist es vor allem die Filmmusik, die sich dieser
Mechanismen meisterhaft bedient - und dies, obwohl gerade im Kino die Musik
kaum bewusst wahrgenommen wird. "Ein Film ohne Musik kann meistens keine
Gefühle transportieren", ist der deutsche Hollywood-Starkomponist
Hans Zimmer überzeugt (siehe Gespräch Seite 142). Schon das
unbewusste Hören macht die Kampfszenen in "Gladiator" so richtig
dramatisch und "Hannibal" Lecters Treiben zum echten Schocker. So
wie ein Lichtstrahl die Augen und ein Geräusch die Ohren anspricht, so
scheint ein Akkord den Gefühlssinn des Menschen zu reizen - und ebendiese
Tatsache ist es, die Forscher immer mehr von der archaischen Kraft der Musik überzeugt.
Unterstützt werden sie von Hirnforschern, die untersuchen, wie jene
unmittelbaren reflexhaften Gefühlsreaktionen verschaltet sind. Rätselhaftes
und Faszinierendes hat die Wissenschaft inzwischen darüber
zusammengetragen, auf welche Weise Musik in der grauen Masse wirkt.
Wie
etwa ist die Begabung des blinden Autisten Tony DeBlois zu erklären, der,
obwohl geistig behindert, achttausend Klavierstücke beherrscht und als
Jazzmusiker reüssiert? Was ist vom Schicksal des russischen Komponisten
Vissarion Shebalin zu halten, der, obwohl durch einen Schlaganfall der
Sprachfertigkeit beraubt, noch seine fünfte Symphonie komponierte? Überwältigender,
zuweilen hypnotischer Effekt Gerade neurologische Schäden sind für
Hirnforscher wie Musikologen ein Quell der Inspiration. So untersuchte etwa
Isabelle Peretz von der University of Montreal in Kanada Menschen, die durch
Hirnblutungen plötzlich vollständig ihre Fähigkeit verloren,
Musik zu begreifen. Zwar konnten die Patienten noch normal sprechen und auch
Geräusche wie Hundegebell wahrnehmen. Einst vertraute Lieder jedoch waren
aus ihrem Gedächtnis getilgt. "Für diese Patienten gleicht Musik
einer Fremdsprache", sagt Peretz. Als Ursache vermutet die Forscherin eine
Störung in der primären Hörrinde, gleichsam der Schaltzentrale
des Hörens.
Mit Erstaunen beobachten die Forscher auch, wie sich ganze Strukturen im
Gehirn verändern, wenn es dauerhaft und intensiv mit Musik konfrontiert
wird. So ist bei Profimusikern beispielsweise das Corpus callosum um bis zu 15
Prozent dicker - jenes Faserbündel, das die beiden Hirnhälften
miteinander verbindet. Auch enthält ihre Hörrinde 130 Prozent mehr
graue Masse als die von Nichtmusikern. Bei Menschen mit absolutem Gehör -
sie können ohne Vergleichston eine bestimmte Tonhöhe identifizieren -
ist eine bestimmte Gehirnwindung im linken Schläfenlappen vergrößert.
Inzwischen wissen die Forscher, dass die linke Hirnhälfte - in ihr wird
auch Sprache verarbeitet - eher für Rhythmen, die rechte dagegen für
Klangfarben und Tonhöhen verantwortlich ist. Weiter vorn liegende
Hirnregionen schließlich sind für kulturell bedingte musikalische
Vorlieben oder Assoziationen zuständig .
Vor allem aber gelang es in jüngster Zeit, die Schaltzentrale
der durch Musik ausgelösten Gefühle dingfest zu machen. Der
Musikforscher Altenmüller beispielsweise bat Musikstudenten, kurze Rock-,
Pop-, Jazz- und Klassiksequenzen sowie Umweltgeräusche emotional zu
bewerten. Bei als schön empfundenen Klängen regte sich die linke Schläfen-
und Stirnregion des Großhirns. Bei unangenehmer Musik feuerten die
Neuronen rechts. Das Interessante: Ebendiese Hirnareale werden auch bei Gefühlen
aktiv, die durch gänzlich andere Reize ausgelöst sind. Ähnliche
Ergebnisse lieferte eine Untersuchung der kanadischen Neurologen Anne Blood und
Robert Zatorre. Ihre Probanden wählten solche Musik aus, die ihnen "Schauer
den Rücken hinunterschickte". Mittels Positronenemissionstomografie
(PET), die lokale Hirndurchblutungsänderungen erkennt, bildeten die
Forscher dann die beim Hören dieser Musik aktiven Hirnareale ab.
Das Ergebnis: Musik hat tiefgreifende Wirkung auch auf das so genannte
limbische System, das auch "Tor zur Emotion" genannt wird. "Schöne
Musik aktiviert Zentren im Gehirn, die glücklich machen", sagt Blood.
Es handele sich dabei um dieselben Hirnregionen, die auch beim Essen, beim Sex
oder bei Drogenkonsum aktiv würden, so die Forscherin. Gleichzeitig
vermindere sich die Aktivität beispielsweise in den so genannten
Mandelkernen, die bei Angst aktiviert würden. "Musik stimuliert das
körpereigene Selbstbelohnungssystem", bilanziert Altenmüller.
Neuronale Strukturen tief in jenen entwicklungsgeschichtlich alten Regionen des
Gehirns würden aktiviert, die direkt für Emotionen verantwortlich
seien. Selbst bei verschlossenen, apathischen, autistischen oder geistig
behinderten Menschen riefen Klänge häufig emotionale Reaktionen
hervor. Altenmüller: "Musik hat sehr wahrscheinlich eine uralte und
wichtige Funktion für den Menschen." Was also hat den Menschen zum
Homo musicus gemacht? Ist das Wiegenlied Ursprung aller Musik, wie sich aus
Sandra Trehubs Experimenten folgern ließe? Hat Musik etwas mit
Revierverteidigung oder Paarbindung zu tun, wie es die Gesänge der Gibbons
im indonesischen Regenwald nahe legen? Oder sollte auch bei der Musik der unter
Evolutionsbiologen so oft bemühte Sex die treibende Kraft sein?
Schon Darwin zog die Parallele zum Gesang der Vögel.
Vormenschliche Männer und Frauen, noch nicht mit der Poesie der Sprache
gesegnet, hätten sich möglicherweise "mit Noten und Rhythmen
umworben", vermutete er 1871 in "The Descent of Man". Auch der
Psychiater Manfred Spitzer hält Musik für eine Folge der so genannten
sexuellen Selektion - und erklärt die Entstehung des menschlichen Genius
gleich mit. Der Mensch habe auch deshalb ein immer größeres Gehirn
entwickelt, weil er mit dessen Leistungsfähigkeit - ausgedrückt durch
Musik - das weibliche Geschlecht beeindrucken konnte. Musik sei also eine Art
Fitness- Indikator des Mannes, vergleichbar etwa mit dem Rad des Pfaus. Diese
Theorie jedoch hat eine offensichtliche Schwäche: "Die rein männliche
Besetzung der Wiener Philharmonie einmal ausgenommen, gibt es keine Anzeichen,
dass Männer musikalischer sind als Frauen", spottet der
US-Musikforscher David Huron von der Ohio State University.
Für viel wahrscheinlicher hält Huron, dass Musik einst
entstand, weil sie den Zusammenhalt von Gruppen förderte. "Menschen
sind extrem auf soziale Beziehungen angewiesen", sagt der Forscher. Nur
weil sie gemeinsam handelten, konnten die frühen Jäger-Sammler-Trupps
bestehen. Als Beispiel führt Huron die brasilianischen Mekranoti-Indianer
an, die bis heute am Amazonas als Jäger und Sammler leben. Musik,
berichtet Huron, spielte eine zentrale Rolle im Alltag dieses Stammes. Für
mehrere Monate im Jahr machen es sich die Mekranoti-Frauen jeden Morgen und
Abend auf Bananenblättern bequem und singen für ein bis zwei Stunden.
Die Männer kriechen sogar schon um halb fünf Uhr morgens aus ihren Hütten
und stimmen mit tiefem Bass ihre Gesänge an. "Die Männer
singen, um sich als Gruppe zu definieren und den Nachbarn mitzuteilen, dass sie
wach und aufmerksam sind", sagt Huron. Der frühe Morgen sei die beste
Zeit zum Angriff. Mit dem Gesang signalisierten die Mekranoti ihre
Verteidigungsbereitschaft und Geschlossenheit.
Auch der japanische Evolutionsforscher Hajime Fukui glaubt an die Theorie von der Musik als sozialem Kitt. Denn je mehr die Urmensch-Gruppen anwuchsen, desto wichtiger wurde es, soziale und sexuelle Spannungen zu schlichten. "Möglicherweise", meint Fukui, "war da Musik die Lösung." Gemeinsames Musizieren senkt bei Männern die Konzentration des Aggressionshormons Testosteron und bei beiden Geschlechtern die Ausschüttung des Stresshormons Cortison. Die Produktion des Hormons Oxytocin dagegen, das soziale Bindungen fördert und beispielsweise auch die Mutter-Kind-Bindung verstärkt, wird durch Musik erhöht. "Nationalhymnen, Arbeitslieder, Partymusik und Kriegsgesänge haben alle denselben Effekt", sagt Fukui, "sie reduzieren Angst und Spannung und erhöhen die Solidarität." In allen Zeiten wirkte Musik auf diese Weise. Zusammen zu singen und zu tanzen, selbst nur gemeinsam Musik zu hören schweißt Menschen zu Stämmen, zu Dörfern und zu Nationen zusammen. Zur Musik ziehen Menschen in den Krieg und begraben ihre Toten. Menschen singen, wenn sie sich Mut machen wollen und wenn sie trauern. Musik erklingt bei Triumphzügen, Hochzeiten und in Fußballstadien.
Bis zum heutigen Tag definieren sich viele Gruppen durch ihre Musik. Der
Pop-Olymp ist voller Identifikationsfiguren für ganze Jugendkulturen. Da
gibt es die unsterblichen Woodstock-Propheten Jimi Hendrix und Janis Joplin,
die die Flower-Power-Generation mit ihren Liedern vereinte. Die rechtsradikale
Szene trifft sich heute auf "Glatzenkonzerten" bei Bands mit so
geschmacklosen Namen wie "Oithanasie" oder "Zillertaler Türkenjäger".
Die Techno-Nomaden verausgaben sich zu wummernden Beats auf der alljährlich
wiederkehrenden Love Parade. Für Teenies dagegen sind Pop-Sternchen wie
Britney Spears oder der Böse-Mädchen-Verschnitt Avril Lavigne
sinnstiftend.
Von jeher haben Priester wie Politiker die enorme Wirkung von Musik
erkannt. "Musik ist eine Hure", bemerkte schon Ernst Bloch. Elias
Canetti philosophierte über das Phänomen des Rhythmus, der einer
formierten Masse den Eindruck von Größe, Ganzheit und Stabilität
suggeriert. Das abstoßendste Beispiel dafür lieferten die
Nationalsozialisten. Als Hitler 1933 an die Macht kam, kontrollierte binnen
kurzer Zeit Joseph Goebbels mit seinem Reichsministerium für Volksaufklärung
und Propaganda das gesamte kulturelle Leben. Auch die Musik wurde zensiert und
von der Politik instrumentalisiert. Jazz und Blues wurden als "entartet"
verboten. Um Richard Wagner dagegen entstand ein mythischer Kult. In Beethoven
feierte man das "Nordische". "Ohne ein ausgesprochenes
Musikverständnis könnten wir keine Sprache lernen."
Auch andere Mächtige nutzten und nutzen die Macht der Musik. Zum
Fall der Berliner Mauer etwa brummelte sich die ganze deutsche Polit-Prominenz
durch die Nationalhymne. Auch das Trauma des 11. September versuchten die
Regierenden spontan musikalisch zu lindern: Am Abend des Terrorakts sangen die
versammelten Kongress-Abgeordneten auf der Treppe vor dem Ostflügel des
Kapitols "God bless America". Mit einem einzigen Lied gaben sie einer
ganzen Nation Trost. Oder die Kirche: Der Hauptgottesdienst der Katholiken ist
ohne den liturgischen Gesang gar nicht denkbar. Erst die "Musica sacra"
verleiht der Liturgie ihre heiligende Legitimation. Der Text wird durch die
Musik dem normalen Sprechen enthoben und vereint dadurch die Gemeinde im Geiste
- eine sinnstiftende Kraft, die sich in der Reformation wiederum gegen Rom
richtete: Martin Luthers Kampflied "Ein' feste Burg ist unser Gott"
schweißte die Protestanten zusammen und gab ihnen Mut, den Katholiken zu
trotzen. Diese vereinende Macht der Musik ist es vor allem, die Forscher in
ihrer Gruppentheorie der Musikevolution bestätigt.
Über den
genauen Weg des Menschen zur Musik kann indes nur spekuliert werden.
Vermutlich spielte dabei das eine wesentliche Rolle, was die Forscher "Gruppensynchronisation"
nennen: Alle fangen auf einmal an zu schreien. Doch langsam kommt Ordnung in
das Chaos - etwa so, wie Beifall sich irgendwann automatisch zu rhythmischem
Klatschen organisiert. Ein einheitlicher Sound aus zahlreichen Kehlen
verschreckt den Feind höchst effektiv und gibt dem Einzelnen das Gefühl,
Teil einer starken Gruppe zu sein. "Wohl organisiertes Rufen ist möglicherweise
viel beeindruckender als eine Kakophonie aus vielen Einzelstimmen", meint
etwa Gibbon-Forscher Geissmann. Selbst für die Frage, warum sich das
Geschrei schließlich in Klänge wandelte, hat Geissmann eine Theorie
parat: Im Vergleich zu Rufen seien Gesänge weit eindrucksvoller, weil sie über
längere Zeit und über größere Distanz zu hören seien.
Aus dieser Art von Mut schürender und Schrecken verbreitender Protomusik,
so die Vorstellung der Forscher, entstanden schließlich Musik und Sprache
gleichermaßen.
"Möglicherweise kommunizierten Frühmenschen schon vor
der Entstehung der Sprache mittels einfacher Musik", vermutet Eckart
Altenmüller. Der Leipziger Psychologe Kölsch geht noch einen Schritt
weiter: "Ohne ein ausgesprochenes Musikverständnis könnten wir
gar keine Sprache lernen", sagt Kölsch. Der Forscher verweist auf
die so genannte Prosodie, jene Betonung und Rhythmik, die jeder Sprache
innewohnt und die emotionale Botschaft des Gesprochenen transportiert. Zudem hat
Kölsch in neuen Experimenten entdeckt, dass Musik auch just jenes Zentrum
des Gehirns aktiviert, das als eines der wichtigsten Sprachzentren gilt: das so
genannte Broca-Areal. Das Verblüffende: Die automatische Verarbeitung von
Musikstrukturen läuft dort sogar schneller ab und beginnt in einem jüngeren
Lebensalter als bei der Sprache - unabhängig davon, ob die Kinder
Musikunterricht hatten oder nicht. "Musikalität ist eine uralte
menschliche Fähigkeit", fasst Ian Cross aus Cambridge die Theorien
zusammen. Als eine Art "Spielplatz" des Bewusstseins betrachtet der
Forscher die Musik. Gerade weil Musik im Kern frei interpretierbar sei, erlaube
sie den kreativen Lauf der Gedanken und die Entwicklung von Phantasie, was für
die Gehirnentwicklung unerlässlich sei. Erst das spielerische Jonglieren
mit Tönen habe jenen "Quantensprung" in geistiger Beweglichkeit
erlaubt, der dem Vormenschen den Weg aus dem Dschungel bahnte, glaubt der
Forscher. "Ohne Musik", sagt Cross, "wären wir vielleicht
niemals zum Menschen geworden."
©Copyright: Philip Bethege und DER SPIEGEL Nr.
31/28.07.2003
© Christoph Pollag, erstellt: 29.10.2005, update:
23.05.2008